Theorie der chemischen Reaktionsnetzwerke

Hier ist ein Skript zur Vorlesung. Hier ist eine englische Version.

 

Das Thema dieser Vorlesung ist die Theorie der chemischen Reaktionsnetzwerke.
In der Chemie betrachtet man Prozesse in denen verschiedene chemische Stoffe
miteinander wechselwirken. Solche Prozesse sind auch von grosser Bedeutung
in der Biologie. Die Wechselwirkungen zwischen den Stoffen bilden ein
Netzwerk. Wenn, wie es in praktischen Anwendungen oft der Fall ist,
stochastische Effekte und Diffusion vernachlässigt werden kann man eine
Situation dieser Art durch ein System von gewöhnlichen Differentialgleichungen
modellieren, das Parameter enthält, z. B. Reaktionskonstanten. In der Praxis
ist das System oft gross (es sind viele Stoffe beteiligt) und die vorhandenen
experimentellen Daten über die Werte der Parameter in konkreten Situationen
oft sehr begrenzt. Wie kann man angesichts einer solchen Kombination von
Komplexität und fehlenden Informationen trotzdem Einsichten in die Dynamik
des Systems mit Hilfe von mathematischen Modellen erhalten? Eine Strategie ist,
solche Ergebnisse zu erhalten, die so weit wie möglich von der Grösse des
Systems und den konkreten Werten der Parameter unabhängig sind.

Eine solche Strategie wurde Anfang der 1970er Jahre von den chemischen
Ingenieuren Fritz Horn, Roy Jackson und Martin Feinberg ins Leben gerufen.
Sie wurde später von Feinberg und vielen anderen immer weiter aufgebaut.
Die so entstandene Theorie (Chemical Reaction Network Theorie, CRNT) ist
das Thema dieser Vorlesung. Es geht also um eine Methode mit deren Hilfe
man die Eigenschaften der Lösungen einer bestimmten Klasse von
gewöhnlichen Differentialgleichungen verstehen kann. Im Mittelpunkt steht
der Begriff der Defizienz. Es handelt sich um eine nichtnegative ganze
Zahl, die man aus einem solchen Netwerk berechnen kann. Je kleiner diese
Zahl, desto stärker die Aussagen dieser Theorie. Insbesondere ist
der Fall der Defizienz Null von zentraler Bedeutung. Welche Fragen kann
man damit beantworten? Es geht darum zu sagen, ob ein bestimmtes
qualitatives Verhalten für Lösungen eines bestimmten Systems möglich ist.
Gibt es z. B. Multistationarität (mehr als eine zeitunabhängige Lösung),
Multistabilität (mehr als eine stabile zeitunabhängige Lösung) oder
anhaltende Oszillationen (eine periodische Lösung)? Diese Phänomene sind
für zentrale biologische Phänomene wie die Differenzierung von Zellen
oder Homöostase von entscheidender Bedeutung.

Voraugesetzt werden nur Kenntnisse aus den Grundvorlesungen, wobei die
Analysis II von besonderer Bedeutung ist.

Literatur: Feinberg, M. Lectures on Chemical Reaction Networks. Erhältlich
von der Webseite http://www.crnt.osu.edu/LecturesOnReactionNetworks. Dieser
Text ist der Klassiker auf diesem Gebiet, sehr gut aber nicht mehr sehr
aktuell. Im Laufe der Vorlesung wird ein Skript erstellt.